5

Hilfeschrei

Die Heilung des inneren Kindes

Tagebuch

.

Mittwoch, 10. März 2004

Heute habe ich mit einer Heilungsarbeit begonnen. Die Kassetten, mit denen ich arbeite, heißen „Healing the child within“ und kommen von Lazaris. Ich vertraue meiner Reikimeisterin, die mir das Set geliehen hat.

Mein Kind hat mich erwartet!

Es hat sich so gefreut, dass ich gekommen bin.

Es hat viel geweint. Wir haben viel geweint. Weinen voller Freude und Weinen voller Schmerz.

Ich bin so froh, diese Arbeit machen zu können. Ich weiß nicht, wer Lazaris ist, aber es fühlt sich gut an.

„Lazaris, wer bist du?“

Ich fühle, dass etwas so Schönes, Liebevolles in der Begegnung mit meinem kleinen Tammo war. Ich bin dankbar und freue mich auf morgen.

.

Donnerstag, 11. März 2004

Das Arbeiten mit dem inneren Kind mache ich heute am späten Abend. Die Tränen kommen sehr schnell, sehr ehrlich, sehr heiß. Es tut gut und ich spüre, ohne viel zu sehen, dass es in mir arbeitet. Wieso kann ich mein Kind nicht finden? Achte ich zu wenig auf das kleine Wesen? Achte ich zu sehr auf das Blending, auf das Zusammenspiel der Worte und der Musik, auf meine aktuelle Reaktion? Ich fühle mich so geborgen und doch will ich mein Kind finden…

Nach der Meditation arbeitet es weiter. Es ist kein Denken, es ist ein suchendes Sein.

.

Freitag, 12. März 2004

Ich beschließe, das Healing morgens als Meditation zu machen, immer regelmäßig, wenn es geht.

Heute kommen keine Tränen. Ziemlich schnell setzt mein innerer Zustand an den Erfahrungen von gestern Abend an. Ich will mein Kind finden.

Ich habe es gefunden, doch es will alleine sein, weil es seinen Vater nicht verraten will. In dem Kind sieht es so aus, dass es weiß, was ihm weh tut, der Vater jedoch die höchste Autorität ist. Es steht vollkommen unter Druck, weil es sich nicht offenbaren darf. Es hat keine Fähigkeit, sich selbst zu sagen, so darf es nicht sein. Es kann nicht richtig fühlen, fühlt und fühlt doch nicht. Es geht aus der Situation, in der es verletzt worden ist, in eine andere hinein, ohne das Gefühl aufgelöst zu haben. Das Gefühl verschwindet underground und dort brodelt es.

Die Sandkiste war eine Möglichkeit, für sich zu sein, auch ohne andere Kinder, vielleicht auch Tabu für andere Kinder und Erwachsene. Aber es war nicht als Ort der Ruhe und der Stille gedacht, sondern als Spielplatz. Der junge Tammo ist dorthin gegangen, um zu spielen. Es gab kein Nachfühlen, mehr ein sinnliches Sein im Spiel, ein Fließen-lassen in fantasievollen Rollenspielen – Wohlgefühl im Sand.

Oma und Opa waren eine weitere Möglichkeit, Geborgenheit zu erfahren, vor allem Oma. Auch der Heuboden auf der Scheune mit den Brettern, die vielleicht gefährlich sein konnten, es aber nicht waren. Das alte Grammophon, Omas Kleiderschrank, die Korsetts. Der Hühnerstall, das Wandern auf dem Hof und auf den Feldern.

Zur Welt des ganz kleinen Kindes im ersten Wohnort gehörten auch die Vermieterin, die Oma genannt wurde, weil sie so alt war, dann die Großtante und der Großonkel. Wieder eine kleine Sandkiste, die erste Sandkiste, mehr im Schatten gelegen, getränkt mit Katzenpipi. Meine Nase erinnert sich an den wohltuenden Geruch einer Tischlerei.

Später, nach dem Umzug nach Moorsum, waren noch mehr Besuche angesagt. Bei meiner Tante und der kleinen Fenja, Fahrten mit den beiden und meinem Onkel am Wochenende. Besuche in der Nachbarschaft. Hinausgehen in die Welt. Einfach so – als natürlicher Wille. Und auch – in der Nachbetrachtung – um das eigene Leid, die Welt zu Hause nicht spüren zu müssen. Kurz vor der Rückkehr, manchmal, später öfter, das Aufflackern von Angst. Zum Beispiel die ständige Angst vor dem Zu-spät-kommen, weil der Vater schon bei drei, vier oder fünf Minuten Verspätung boshaft und zornig wurde.

Und auch Fahrradfahren. Manchmal bin ich sehr weit weggefahren, bin im Wald spazieren gegangen und habe wunderbare Streifzüge unternommen.

Es fühlt sich so an, daß mein junger Tammo sehr viel Angst vor seinem Vater hatte und ihn gleichzeitig mochte. Er konnte sich seine „unerwünschten“ Gefühle nicht eingestehen. Es brodelte in ihm, ohne dass er diesen Zustand wahrnehmen konnte. Das Brodeln wurde immer intensiver…

.

Abends

Ein Gedanke.

Ich kann von einem geliebten Menschen für immer weggehen, ohne mich umzudrehen.

Meine Mutter ist gleich nach meiner Geburt aus dem Krankenhaus gegangen, ohne sich umzudrehen.

.

Sonnabend, 13. März 2004

Habe erst meditiert und habe den Wunsch, das innere Kind sehen zu können, ausgesprochen.

Das innere Kind will nicht mit mir sprechen. Es begründet:

„Du bist ein Verräter. Du bist von meinem Vater und von meiner Mutter unerwünscht. Du erzählst alles, was du aufdeckst. Ich will nicht, dass du an diese Zeit ran kommst. Es hat damals so weh getan und erst wieder durch die Öffnung, das Wiedererleben, tut es weh und bereitet große Schmerzen.

Du bist ein Sannyasin geworden und bringst große Unruhe in mein Leben. Warum? Es ist alles so gut gegangen ohne dich, alles nahm seinen Weg, alles hatte seine Bahnen. Mein Vater und meine Mutter wollen nicht, dass du dich mit Fremden in unsere Angelegenheit einmischst. Es soll alles so bleiben, wie es ist. Geh und lass uns in Ruhe.“

Danach ein Dämmerzustand.

Hilfeschrei des Kindes. Ich soll und muß kommen. Ich bin der Einzige, der helfen kann. Das Kind (das Baby, die ersten Lebenstage…?) kann sich nicht bewegen. Es kann sich nicht bewegen, es kann nicht schreien. Es ist still gelegt, lahm gelegt. Nicht gefesselt, sondern…? Es ist schrecklich. Ich kann nicht helfen, ich kann nur da sein. Und atmen. Mein Kind spürt mich. Es dauert ganz lange, wie wir so zusammen sind.

Assoziation

Es liegt nahe, dass die Babys damals ein starkes Beruhigungsmittel, eventuell Baldrian, bekommen haben. Das liegt doch wohl wirklich nahe, oder was würde so eine große Kinderabteilung – die des katholischen Krankenhauses Sankt Willehad in Wilhelmshaven – wohl sonst machen? Ein einzelnes Kind brüllt schon ein normales Haus zusammen. Und diese Kinder müssen lange, lange schreien, so verzweifelt sind sie, weil die Mutter nicht da ist. Oder das eine Kind, das die anderen sonst wach schreien würde. Das Baby muß still gelegt worden sein.

Der Schrei wurde erstickt, bevor er herauskommen konnte.

Lahm gelegt. Nicht aufstehen können. Nicht fühlen, nicht ausdrücken können. Bekannte Situationen. Wie mit unsichtbaren und nicht fühlbaren Elementen fest gezurrt.

Gedanken. Wie Wolken am Himmel.

Was passiert im Hier-und-Jetzt? Ich verleugne Osho und entferne mich von ihm. Ich kann nicht weiter arbeiten. Meditieren ja, aber ist hier das Ende der psychoanalytisch-dynamischen Arbeit?

Oder handelt es sich „nur“ um eine neue Sicht bekannter Lebensumstände?

.

Sonntag, 14. März 2004

Sein. Einfach nur Sein mit dem kleinen Tammo. Kein Forschen, keine Fragen, kein verbales Mitteilen. Einfach Da-Sein, einfach Miteinander-Verbunden-Sein.

.

Montag, 15. März 2004

Das innere Kind.

Das Bild von dem Jungen, der bei Oma zu Besuch ist. Lachen, die Hände in den Taschen. Der junge Tammo hat auch, wenn er alleine war, sexuelle Räume gesucht und – gefunden. Omas Korsett, das zu lustvollen Spielen führte, Vaters Bücher, die ebenfalls viel Lust auslösten, die ganz verbotenen Bücher, die noch mehr Lust bedeuteten, die Unterwäsche der Mutter…

Der verzweifelte Versuch, Fenjas Höschen herunterzuziehen, ihre Freundin in der Nähe, ein paar Meter weiter die Tante, alle im Garten. Wie sieht ein Mädchen aus und was ist zwischen ihren Beinen? Um den Jungen herum nur verhüllte Menschen, egal, ob groß oder klein.

Die erste Verabredung mit neun Jahren bei Gesa und Inga, um die Nacktheit des anderen kennenzulernen. Eine Bühne ohne Anfassen-Können-Dürfen-Wollen. Das Spiel endet früh, weil die Regeln vergessen sind. Ein Leben ohne Doktorspiele.

Der Alltag meiner Eltern war ein Alltag ohne Zusammen-Sein, ohne Zärtlichkeit. Meine Tante und mein Onkel küßten sich auf den Mund, wenn der Onkel von der Arbeit kam. Wie schön und zärtlich anzusehen.

Das innere Kind, mein Tammo, darf die sexuellen Räume, die damals TABU waren, suchen und aufsuchen, darf so sein, wie er war und ist. Ich erlaube es ihm, denn ich weiß, was er damals nicht wußte. Ich flüstere ihm ins Ohr: „Deine Bedürfnisse sind natürlich und ehrlich. Ich bewundere deine Zielstrebigkeit.“ Und ich wiederhole es ganz laut: „So, wie du bist, bist du vollkommen in Ordnung.“

Kommentar

Das Drama des inneren Kindes: Verbergen müssen, Schichten von ausgesprochenen und unausgesprochenen Moralen wahrzunehmen; nicht darüber sprechen zu können und isoliert zu sein. Tabus spontan (auf-)brechen, aber den eigenen Weg verbergen – müssen. Ist das nicht grausam? Das Kind, das entdecken will, lebt in einer Welt der Verlogenheit. Das Natürliche – die Sexualität – wird verborgen gehalten.

.

Dienstag, 16. März 2004

Einfach miteinander sein. Füreinander dasein.

.

Mittwoch, 17. März 2004

Fragen.

„Wer ist Lazaris?“

„Soll ich an dieser Stelle mit Lazaris oder ohne Lazaris weiter arbeiten?“

„Gebe ich meine spirituelle Kraft in dieser Art von Heilung ab?“

„Habe ich Angst vor dem Unbekannten?“

„Bin ich mißtrauisch gegenüber Lazaris?“

Diese Art von Heilungsarbeit kenne ich nicht; bislang haben mir Oshos Meditationen, die Workshops von Margo Anand und Veeresh vollkommen ausgereicht, um Licht und Freude in mein Leben zu bringen. Doch das, was ich in der vergangenen Woche erfahren habe, ist neu für mich. Das Konzept von Jach Pursel – das ist der Mann, der Lazaris erfunden hat – ist einzigartig. Auf diese Weise bekomme ich einen faszinierenden Kontakt zu meinem inneren Kind, zu dem Kind, das ich einmal war und das ein Teil meines Lebens ist. Jach Pursels Gebrauchsanweisung zur Heilung des inneren Kindes, seine wohlklingende Stimme und die Musik helfen mir wirklich, den Weg nach innen zu gestalten.

Heute Morgen sind wir – das innere Kind und ich – eine viertel Stunde lang in der Meditation zusammen, ohne Lazaris. Ich erkläre dem Jungen, was ich gerne im Leben machen und wie ich arbeiten möchte.

Ich sage ihm: „Ich will mich gerne mit all meinen Fähigkeiten und Wünschen zeigen. Ich will in einer Kommune leben.“

Abends innere Unruhe.

„Akzeptiere die Unruhe. Das ist die einzige Methode, um zu leben. Transformation ist der Weg.“

„Hugh, mein innerer Meister hat gesprochen. Stimmt, Leiden kann transformiert werden.“

.

Donnerstag. 18. März 2004

Im Laufe des Tages spüre ich wieder große Unruhe in mir. Der Tag geht als Der Tag des Großen Abwaschens in die Geschichte ein. Fünf Mal hintereinander wasche ich ab. Abends sitze ich mit meiner Reikimeisterin zusammen.

.

Freitag, 19. März 2004

Mein inneres Kind nenne ich ab jetzt Little Buddha. Es ist wirklich ein schöner Name und ich verbinde mit ihm mehrere geliebte Wesen. Mein kleiner Buddha, mein Lieblingsbuddha, steht in Worpswede. Ein anderes Wesen ist Buddha Shakyamuni, über den ich allerdings noch weniger weiß als über Hoetgers Buddha in Worpswede. Dann Little Walter mit seiner Musik, die ich wiederum bei meinem Freund Walter kennengelernt habe.

Little Buddha will nicht vor der Erinnerungsphase in das Blending geschickt werden.

„Immer, wenn ich anfange, mich an dich zu gewöhnen,“ sagt er, „schickst du mich weg. Du kennst diese Wesenheit namens Lazaris nicht. Ich weiß nicht, was ich da alleine soll. Ich bleibe hier.“

Little Buddha will Zeit zum Einkuscheln, zum Da-Sein und zum Fragen haben. Ich glaube, Little Buddha entwickelt seinen eigenen Willen. Endlich.

Ein wenig später erkläre ich Little Buddha, wie mich die große Unruhe in mir immer wieder belästigt, dass sie schwer auszuhalten ist. Dass ich dann nicht richtig mit Menschen zusammen sein und dass ich keine Aufgaben in Ruhe machen kann.

Little Buddha spricht mit mir.

„Ich habe die Unruhe von Mutter während meiner irdischen Werdungszeit, die du Schwangerschaft nennst, kennengelernt. Sie hat sich in dieser Zeit nicht um mich gekümmert und hat alle Regeln, die beachtet werden sollten, ignoriert.

Sofort nach der Geburt ist sie gegangen und hat mich allein im Krankenhaus zurückgelassen. Deswegen bin ich unruhig, weil ein Baby unruhig ist, wenn die Mutter es verlassen hat. Ich war verzweifelt und ungeduldig; ich habe geschrien, nach Essen, nach Trinken, nach Berührung, nach Liebe. Meine Mutter war nicht da.

Diese Erfahrung war meine erste Lebenserfahrung. Die Unruhe hat sich in mich hineingefräst. Immer, wenn du unruhig bist, spürst du mich und meine Unruhe. Ich helfe dir, dass du dich erinnerst, mich zu versorgen. Mit Essen und mit Trinken, mit frischer Luft, mit Kuscheln und mit Liebe.“

Ich verstehe. Zwischen uns entsteht ein Dialog. Ich kann Little Buddha in meinem Leben jedoch nur dann hören, wenn ich aufmerksam und wach bin, wenn ich – in all dem Trubel um mich herum – eine meditative Stille lebe, so dass ich ihn hören kann. Little Buddha kann mir wohl erst dann richtig vertrauen, wenn ich es schaffe, jeden Tag, jede Stunde, jeden Moment auf ihn zu hören.

Wir fragen uns, wie wir mit Lazaris umgehen. Little Buddhas Mißtrauen ist sehr groß. Meins auch.

Ich mache ein Meeting mit den Göttern und den Göttinnen, mit allen spirituellen Helfern und Freunden, mit unserer Seelenfamilie. Ich bitte um höhere Führung wegen der Angelegenheit namens Lazaris. Erst, als ich eine Idee, einen Gedankenblitz habe, springen wir auf Lazaris zu, machen Luftrollen und fliegen in ein riesiges Energiefeld.

Dann beginnt das Blending. Es ist einfaches Da-Sein, kein Denken mehr. Little Buddha wird nicht mehr übergeben wie ein Kind dem Kindergartenteam. Er ist sehr froh darüber, denn heute sind wir mit der ganzen Seelenfamilie bei Lazaris. Little Buddha freut sich auf das Abenteuer, das Heilung bedeutet.

Postscript

Little Buddha und ich sind Trickser. Wir haben nur so getan. In Wirklichkeit haben wir das Land besucht, das Liebe heißt. Trotz eines genialen Heilungskonzeptes kommen wir nicht auf den Gedanken, ein gut verpacktes Marketingunternehmen mit den Risikofaktoren von Gier seitens der einen und Sucht seitens der anderen Seite – unserer Seite – zu unterstützen. Aber wir haben viel Spaß miteinander.

Little Buddha flüstert mir etwas ins Ohr. Ich soll schreiben, dass wir dennoch dankbar sind.

Das bin ich auch, nicht nur unserer Reikimeisterin gegenüber, die die Kassetten geschenkt bekommen und uns kostenlos zur Verfügung gestellt hat. Wenn ich es schaffe, nicht mehr zu rauchen und meine Alkoholkrankheit überwinde, ist Heilung passiert. Wann werde ich das wohl fühlen und wertschätzen?

Aus dem Roman „Tabu“

Friedland 2009

Hinterlasse einen Kommentar